Arnold Niederer wurde am 3. Dezember 1914 als zweiter Sohn des Eisenbahners Johannes Niederer und dessen Frau Luise geb. Burkhalter in St. Gallen geboren. Als er 2 Jahre alt war, starb seine Mutter, und er wuchs bei Verwandten in Belp im Kanton Bern auf.
Niederers Onkel Fritz Burkhalter, der als Primarlehrer tätig war, förderte den aufgeweckten Arnold, so dass dieser schon als Erstklässler fähig war, einem andern, erblindeten Onkel die Tageszeitung vorzulesen. Niederer selber beschreibt seine Zeit in Belp, die er mit andern Kindern oft auch ausserhalb des Hauses und der Schule verbrachte, als genuss- und erfahrungsreich, und sie hätten „darin wie in einem Buch lesen und Unerhörtes entdecken“ können.
Arnold Niederer als Schüler in Belp
Mit 16 Jahren, nach der Sekundarschule, begann er eine Lehre bei einem Tabakwaren-Grosshändler in Lausanne, die er nicht nur mit kaufmännischen, sondern auch mit sehr guten Französisch-Kenntnissen abschloss.
Da er in den Jahren der Rezession keine Stelle fand, zog er als Verkäufer für Raucherwaren und Wanderlehrer für Französisch (meist zu Fuss) durchs Wallis und kam 1933, als knapp 20Jähriger, zum ersten Mal ins Lötschental.
Arnold Niederer mit Kursteilnehmern in Kippel
Arnold Niederer sucht und findet in den Walliser Tälern das Andere, das Fremde – dies ohne die Schweiz verlassen zu müssen. Seine gegen geringes Entgeld geführten Französischkurse für Bergführer, Gastwirte und andere interessierte Personen verbessern deren Berufschancen und verhelfen zu besseren Löhnen.
Durch seine Französischkurse lernt Arnold Niederer den Maler Albert Nyfeler kennen. Dieser schätzt und fördert ihn sehr und ermöglicht es ihm, die Matura nachzuholen (1944). Unterstützt von Nyfeler und anderen Personen studiert Arnold Niederer von 1944–1951 an der Universität Zürich Romanistik bei Jakob Jud und Theophil Spörri, Soziologie bei René König und Volkskunde bei Richard Weiss. 1956 promoviert er mit seiner Dissertation „Gemeinwerk im Wallis“. Arnold Niederer ist 42 Jahre alt.
„Der Unterzeichnete, Albert Nyfeler, Kunstmaler, Kippel (VS) bestätigt, dass Herr Arnold Niederer von Lutzenberg (App.) vom Frühling 1938 bis Herbst 1941 in seinen Diensten stand.
Herr Niederer besorgte während meiner Abwesenheit das Atelier, d. h. er bediente vor allem während der Sommermonate die Besucher und Kunden. Mehrmals half er mir grössere Ausstellungen in den Städten Zürich, Basel, St. Gallen, Winterthur durchzuführen, wobei er die Publizität besorgte. Da ich während dieser Jahre Präsident des Verkehrsvereins Lötschental war, besorgte Herr Niederer ebenfalls die grosse diesbezügliche Korrespondenz und Propaganda.
Herr Niederer verliess mich im Herbst 1941, um seine Studien in Zürich aufzunehmen, doch war er mir während seinen Ferien jeweils Stütze, sei es für Arrangierung von Ausstellungen, Bedienung des Ateliers etc.
Ich habe Herrn Niederer als einen initiativen, vielseitig begabten Menschen schätzen gelernt und meine besten Wünsche begleiten ihn auf seinem weitern Lebensweg.
Kippel (Wallis), 20. Januar 1947 A. Nyfeler.“
Arnold Niederer als Sekretär von Albert Nyfeler; 1939
Seite aus dem Mitgliedbuch der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz für Arnold Niederer mit den Beitragsquittungen für die Jahre 1948 und 1949
Zahlreiche Dokumente belegen auch Arnold Niederers gesellschaftliches und politisches Engagement; so etwa die Mitgliedbücher der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und der Gewerkschaft VPOD, die Mitgliederausweise des Vereins Die Naturfreunde und der Federazione delle Colonie Libere Italiane in Svizzera oder die Mitgliederkarte des vom Arbeiterhilfswerk getragenen Vereins Freundeskreis Pro Rimini.
Seit Ende der 1940er Jahre ist Arnold Niederer Lehrer, später Vorsteher der Sprachabteilung der Gewerbe- und Kunstgewerbeschule in Zürich. Nebst dem obligatorischen Unterricht für die Berufsschüler gründete er auch eine Abteilung Fremdsprachen für Erwachsene sowie die erste öffentliche Schule am Platz, in der sich Erwachsene auf die Maturität vorbereiten konnten. Es war ihm ein Anliegen, Wissen weiterzugeben und andere an dem teilhaben zu lassen, was er erhalten, vielmehr sich mühsam selber erarbeitet hatte.
Arnold Niederer als Lehrer an der Kunst- und Gewerbeschule Zürich
Das Arnold-Niedererhaus (Bildmitte) in Ferden im Lötschental;1980
1953 ersteht Arnold Niederer auf einen Hinweis Nyfelers hin das Vogelhuis – eines der ältesten Häuser, am oberen Dorfrand von Ferden im Lötschental – und richtet sich eine bescheidene Zweit-Bleibe ein. Heute heisst es Arnold-Niederer-Haus und steht im Eigentum der Arnold-Niederer-Stiftung.
1964 wird Arnold Niederer als Nachfolger von Richard Weiss zum Ausserordentlichen Professor für Volkskunde an die Universität Zürich gewählt.
Arnold Niederer in der Bibliothek des Volkskundlichen Seminars an der Apollostrasse in Zürich, wo er nach und nach mehr Mittel, mehr Personal, mehr Raum verlangte. All dies erlangte er, indem er auf sein eigenes „Upgrading“ verzichtete. Den immer zahlreicheren Studierenden hält er mit grosser Sorgfalt vorbereitete Vorlesungen zu immer wieder neuen Themen.
Prof. Dr. Arnold Niederer in der Seminarsbibliothek
Exkursion zu den Fischern in Cabras, Sardinien; 1970
Exkursionen, ein fast magisches Wort für Arnold Niederer und ebenso für die Studierenden: „erlebte Anschauung“ sollten diese, von allen sehr beliebten, in Niederers Studiengängen obligatorischen Sequenzen von Feldforschung sein.
In San Vito, Sardinien, merken die Studierenden spätestens beim gemütlichen Picknick, dass ihr Professor verlobt ist (1972).
San Vito, Sardinien; 1972
Zu Tisch im Vogelhuis in Ferden
Das grosse Engagement ist nur zu leisten dank Retraiten in der gemütlichen Stube des Vogelhuis’, wo viele ein- und ausgehen, einem „Kraftort“, wie einige behaupten. Wie immer man die dichte Atmosphäre bezeichnen mag: Bestimmt hat Arnold Niederer hier Kraft geschöpft und viel davon in unterschiedlichen „Währungen“ weitergegeben.
Für den Nachlass des 1969 verstorbenen Malers Albert Nyfeler soll in Kippel ein Talmuseum entstehen. Hier absolvieren alle Studierenden jener Jahre mindestens einmal ein Praktikum unter der kundigen Leitung des damaligen Oberassistenten Leo Zihler. 1971 werden die ersten Objekte fachgerecht im Schulhaus Kippel präsentiert, nicht zuletzt um für das zu bauende Museum zu werben.
Praktikanten auf dem Weg zum Talmuseum in Kippel
SIEF (Société Internationale d’Ethnologie et de Folklore)-Kongress, 1968, Portugal
Auch auf der internationalen Bühne bewegt sich Arnold Niederer kompetent und gesellig: SIEF (Société Internationale d’Ethnologie et de Folklore)-Kongress, 1968, Portugal, mit dessen Sprache und Kultur er sich intensiv auseinandersetzt. An vielen anderen Kongressen betätigt er sich in wechselnden Rollen, aber stets aktiv, denn: Wer nimmt – so Niederer – soll auch geben. In Deutschland lernt er 1969 seine zukünftige Frau, Loni Nelken, eine Bausinger-Studentin, kennen.
Ziviltrauung Arnold Niederer und Loni Nelken, hier vor dem Stadthaus Zürich, 22. Dezember 1972, wo seine Familie, seine aktuellen und ehemaligen Studierenden von nah und fern, ihnen ein Fest bereiten.
Ziviltrauung mit Schnabelgeiss, 1972, Zürich
Museumstour in der damals noch existierenden DDR, 1978
Und immer wieder Exkursionen in damals wenig zugängliche Regionen: Unter der Programmführung seines Kollegen Wolfgang Jacobeit gibt es eine Museen-Tour in die DDR (1978), methodisch damals an der Spitze zu „Handwerk und Heimindustrie im Erzgebirge“. Die Studierenden werden in die Kunst eingeführt, wie Volkstümliches in allgemein gesellschaftliche Kontexte einzubinden und zu vermitteln ist.
Nach langen Jahren des Aufbaus und der Vorbereitung kann am 5. Juni 1982 der Museumsneubau mit der von Loni Niederer konzipierten Ausstellung „Haus und Wohnung im Lötschental“ eröffnet werden. Neben dem Zürcher Seminar wirken dabei auch lokale Pioniere wie Marcus Seeberger, Ignaz Bellwald, Angela Jaggy oder Jakob Bellwald mit.
Loni Niederer-Nelken, Arnold Niederer und seiner Schwägerin Sigrid Nelken anlässlich der Eröffnung des Lötschentaler Museums, 5. Juni 1982
Arnold Niederer im Fernsehen
Nicht nur vorlesen und praktisch anleiten will Niederer seine Studentenschaft. Er macht sich auch Sorgen um deren Zukunft. Deshalb pflegt und vermittelt er Kontakte zu potentiellen Arbeitgebern wie den Medien. So initiiert er Radio- und Fernseh-Serien, hier zu einem seiner damals ganz neuen Fachthemen: Nonverbale Kommunikation.
60. Geburtstag, 1974
Kloster Frauenthal, 1975
Fest im Kloster Frauenthal (1975) zum Abschluss der Dissertation eines Werkstudenten, die Art von „Schüler“, die Arnold Niederer gemäss eigener Berufs-Biografie fast die liebste ist. Nach ihnen richtet er weitgehend seinen Stundenplan aus.
Und schon ist sie da – die Pensionierung (1980): Vieles läuft weiter, so internationale Beziehungen und Würdigungen Arnold Niederers. Empfang seines Kollegen Konrad Köstlin mit Anhang aus Wien, denen Neu- Zürich und nicht etwa das Sechseläuten gezeigt wird (durch den ehemaligen Niederer-Studenten, Nikolaus Wyss); Hier & Jetzt – eine Bresche mehr für den Alltag oder die Kultur im Erdgeschoss, wie Niederer das Forschungsfeld seines Faches bezeichnet.
Exkursion durch Neu-Zürich, 1980
Walter Escher, Elsbeth Liebl, Arnold Niederer, 1995
Im Stillen wird (unter der bedeutenden, nirgends erwähnten Mitwirkung seiner Frau) – aller rebellischen Anfechtungen der jungen Studentenschaft zum Trotz – das grösste Projekt der Schweizer Volkskunde, der Atlas, zum Abschluss gebracht, zusammen mit Walter Escher und Elsbeth Liebl (1995)
Das Vogelhuis in Ferden ist und bleibt ein gastlicher Ort der Geselligkeit und des Austauschs, sei es mit Kindern aus der weiteren Verwandtschaft oder immer auch mit den Dorfkindern, die sich heute noch ans „Siirup-Triichn“ bei Niederers erinnern.
Loni Niederer-Nelken mit „Gästen“ vor dem Niedererhaus
Ruth, E. Mohrmann, Arnold und Loni Niederer
Am altehrwürdigen Schiefertisch im Vogelhuis, hier mit seiner ehemaligen Kollegin Ruth E. Mohrmann aus Münster, der Arnold Niederer in seiner nachdenklich-neckischen, stets treffenden Art was zu erzählen hat. Nicht im Bilde dokumentiert sind viele Kolleginnen und Kollegen auch aus dem damals geächteten und isolierten Osteuropa (die auf Niederers Einladung, Fürsprache und Kosten kamen) und solche aus Frankreich, Skandinavien, den USA oder Japan – so dass das Lötschental heute als das best erforschte Alpental gilt.
1991 wird dem Ehepaar Niederer die Ehrenburgerschaft der Gemeinde Ferden verliehen – ein überaus seltener Akt.
Ehrenburger von Ferden, 1991
Silberne Hochzeit, 1998
Ein grosses Fest mehr: Silber-Hochzeit-Nachfeier in Deutschland, 31. März 1998, einige Tage vor Arnold Niederers Hinschied
Arnold Niederer im verdienten, aber kaum benutzten Ruhestand, weil, wie er so träf vernehmen liess, ein Ethnologe keine Freizeit hat – er ist stets am Beobachten und Nachdenken! Das vermittle ihm Zugänge zu den andern Menschen und zur Gesellschaft – wenn es hoch komme, gelinge es ihm damit sogar, gesellschaftliche Prozesse zu erklären und Entwicklungen zu beeinflussen.
Am 5. April 1998 – auf dem Weg zum Briefkasten – stürzt Arnold Niederer und wird bewusstlos ins Waidspital in Zürich eingeliefert, wo er in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages stirbt.
Arnold-Niederer-Stiftung
Angela Werlen, Präsidentin
Talstrasse 18
3916 Ferden
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Arnold-Niederer-Stiftung
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